Nach dem großen Exodus wurde der freie Platz in meinem Büro mit einer Praktikantin namens Ilona besetzt – einer 21-jährigen Blondine, die einen hübschen Herzmund, hochgesteckte Kringellöckchen und viel Babyspeck um den Bauch hatte. Sie stammte aus dem Sauerland, und soweit ich gehört hatte, war sie über eine Bekannte im oberen Stock an den Job gelangt. Ilona gehörte zu den Mädchen, die nie im Leben daran dachten, Journalistinnen zu werden, die ein solches Praktikum aber für geeignet hielten, Eindruck bei Großfirmen zu schinden. Geistig hatte Ilona eine große Affinität zu unserem Magazin – sie war vernarrt in R'n'B-Discos, Australien und Männer mit gepflegten Fingernägeln –, aber mit dem Schreiben haperte es noch ein wenig.
Ilonas Aufgabe war es, Fakten für Bildunterschriften und Infokästchen zu recherchieren, und wenn es ans Zusammenfassen ging, klang das bei ihr dann so: »Grace Kelly verunglückte 1982 bei einem Autounfall auf der Straße nach Monaco und verstarb noch im Krankenwagen. Die Ärzte widmeten ihr ein Lied.« Oder: »Um seine Crackabhängigkeit zu bekämpfen, wurde Coolio Feuerwehrmann, doch schon bald schlitterte er ins Rap-Geschäft hinein.« Zwar gefiel mir die Vorstellung von den singenden Ärzten (die auch durch Ilonas rasch hinzugefügte Anführungszeichen nicht seriöser wurden) oder den freundlichen Feuerwehrmännern, die Coolios Crackpfeife mit solchem Wasserdruck löschten, dass er ins nächste Rap-Geschäft hineinschlitterte. Aber leider blieb es jedesmal an mir hängen, Ilonas Streiche aufzudröseln und umzuschreiben.
Währenddessen saß ich fieberhaft über einer Reportage namens Sex-Protokoll Yokohama: Klinik-Bordelle, Fetisch-Pavillons, Clubs mit Kinder-Geishas ohne Höschen in Japans Sündenpfuhl wird jede Perversion ausgelebt! Der Autor, ein gewisser Mirko Kellermann, war selbst zwar nie in Japan gewesen, hatte aber in einer Hotelbar jemanden kennengelernt, der sich für diese heißen Infos verbürgte. Das »Sex-Protokoll«, das Mirko daraufhin angefertigt hatte, strotzte jedoch vor so vielen Märchenelementen, dass zwei weitere Journalisten tagelang damit beschäftigt gewesen waren, die Geschichte in eine halbwegs glaubwürdige Form zu bringen. Da Cändy wieder am laufenden Band das Layout verändert hatte, blieben mir jetzt nur mehr zwei Stunden, um die Geschichte bis Druckschluss fertig zu redigieren.
»Mir is so langweilig!«, stöhnte Ilona. »Der Chef hat gesagt, ich soll Zitate zusammensuchen, die Männer über Frauen gesagt haben. Weißte, so George Clooney und so.«
»Ruf mal im Archiv an«, sagte ich und straffte am Computer die Ausgeburten von Mirkos Phantasie. »Die sollen dir Material zufaxen.«
»Hab ich ja schon gemacht, aber da war nix Brauchbares dabei!«, quengelte Ilona. »Wieso kannst du mir das Ganze nicht schreiben?«
»Mein liebes Kind«, sagte ich, »ich habe über Jahre hinweg versucht, ein Redaktionspraktikum zu ergattern, und es ist mir nicht einmal bei der Fußpilz-Rundschau gelungen. Ich befürchte, du musst deine kleinen Hausaufgaben schon selbst machen.«
Ilona zog einen trotzigen Flunsch und schlug mit einem Stapel Archivblätter auf den Tisch.
»Dann hilf mir wenigstens und sag mir, wo man solche Sachen findet, was Männer über Frauen sagen.«
»Zum Beispiel in der faszinierenden Welt der Bücher!«, sagte ich. »Schau doch einfach mal nach im Weiberjambos von Semonides. Der ist doch stets eine Fundgrube.«
»Im Weiber... was?«
»Oder bei Ibn Qayyim al-Gauziyya: Über die Frauen. Auch immer wieder gerne gelesen.«
»Komm, jetzt verarsch mich nicht!«
»Oder schlag ganz einfach mal im Hexenhammer nach! Wenn bei Sprenger und Kramer nichts über Frauen drinsteht, dann weiß ich auch nicht wo!«
Ich beugte mich wieder über Mirkos Märchen und wartete auf eine Entgegnung, doch es kam keine. Nach einer Weile flötete Ilona mit zuckersüßer Stimme:
»Am Sonntag ist doch dieses Konzert von Seal in der Olympiahalle. Sag mal, kannst du mir da nicht 'ne Freikarte besorgen?«
»Ich werde sehen, was sich machen läßt...«
»Danke!«, sagte Ilona und warf mir einen Kussmund zu.
Ich redigierte weiter den Text, während Ilona im Internet herumklickte und dem Drucker Seiten entnahm.
»Hör dir das mal an!«, sagte ich kopfschüttelnd. »'Im noblen Golden-Ginko-Bordell gilt der Grundsatz: Wer dreimal spritzt, bekommt sein Geld zurück...!' Herr im Himmel, dieser Mirko lügt, dass sich die Thunfisch-Makis biegen.«
Ich markierte die Passage, zögerte einen Moment... und strich sie – schweren Herzens, zugegeben, denn in ihr schwang auch ein verlockender Utopismus mit, den man sonst nur bei Frühsozialisten wie Proudhon oder Fourier fand.
»Das ist ja dann fast wie 'ne Melkmaschine bei uns auf'm Hof«, kicherte Ilona.
»So ungefähr...«, sagte ich.
»Schon verrückt, was die in anderen Ländern alles so machen.«
Einen kurzen Moment war es still zwischen uns, dann fragte Ilona:
»Haste Lust, das mal mit mir zu probieren?«
Ich blickte vom Computer hoch und starrte Ilona an. Verlegen strich sie sich einen Lockenkringel hinters Ohr, ihr Herzmund zuckte ein wenig und zerfloss zu einem vollen, bezaubernden Lächeln. Langsam wurde sie mir so richtig sympathisch.
»Wiederhol's nochmal!«, sagte ich und tippte an mein Ohr.
»Ob du Lust hast, das mal mit mir zu korrigieren«, sagte Ilona und warf mir die Ausbeute ihrer Männer-Zitate über den Tisch.

Aus: Der König von Mexiko (Blond Verlag 2015). Bestellbar über: auslieferung@blond-verlag.de

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